Imtiaz Dharker: Ein Jahrhundert später

Eine literarische Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Malala Yousafzai, Friedensnobelpreisträgerin 2014

Am 10. Oktober 2014 richtete sich die Aufmerksamkeit der Medien schlaglichtartig auf die Rechte von Kindern in aller Welt, nachdem das Nobelpreiskomitee in Oslo bekannt gegeben hatte, dass sich die pakistanische Schülerin Malala Yousafzai und der indische Kinderrechtsaktivist Kailash Satyarthi den Friedensnobelpreis teilen. Das Schicksal Malalas hatte bereits 2012 für weltweite Schlagzeilen gesorgt, als extremistische Taliban in ihrem Heimatort einen Schulbus stürmten, um an ihr ein Exempel zu statuieren. Die damals fünfzehnjährige Malala, die sich offen über ein Verbot von Schulbildung für Mädchen hinweggesetzt hatte, sollte zur Abschreckung für andere durch gezielte Schüsse in den Kopf hingerichtet werden. Der Plan der Terroristen misslang, denn Malala überlebte schwer verletzt und wurde zur Symbolfigur für die Gleichberechtigung von Mädchen. Ihre Popularität nutzte sie nach ihrer Genesung, um weiter öffentlich für ihr Anliegen einzutreten: das Recht jedes Kindes auf Bildung.

Anthem for Doomed Youth

Für Imtiaz Dharker war die Nachricht über ein muslimischen Mädchen, das für seinen Wunsch zu lernen mit dem Leben hatte bezahlen sollen, Anlass ein politisches Gedicht über den Anschlag zu verfassen. Die 1954 in Pakistan geborene Dharker, die in Schottland aufwuchs, nahm dafür Bezug auf einen der wichtigsten englischen Dichter des Ersten Weltkriegs: Wilfred Owen, der im Alter von nur 25 Jahren kurz vor Kriegsende 1918 an der Front starb, hatte wiederholt das sinnlose und grausame Töten seiner Generation angeprangert. Seine „Hymne für eine verdammte Jugend” („Anthem for Doomed Youth”) ist ein düsterer und provokanter Text, der so beginnt:

What passing-bells for these who die as cattle?

Only the monstrous anger of the guns.

Only the stuttering rifles’ rapid rattle

Can patter out their hasty orisons.1 

Welche Totenglocken klingen denen, die wie Schlachtvieh sterben?

Nur die monströse Wut der Waffen.

Nur das Stottern rasselnd-rascher Repetierer

Kann ihre Stoßgebete übertönen.

A Century Later

In Anlehnung an Owens „passing-bells for these who die as cattle”2 schreibt Dharker im Jahr 2012: „The school-bell is a call to battle, / every step to class, a step into the firing line.”3 („Schlachtruf ist die Schulglocke, / jeder Schritt zur Klasse, ein Schritt ins Schussfeld.”) Weiter heißt es, dass sich mit dem Eintritt des Geschosses im Geiste der Verwundeten ein blühender Garten auftut, „full of poppies”4. Dieser Verweis auf pakistanische Mohnwiesen kann auch als Anspielung auf den Ersten Weltkrieg gedeutet werden, als roter Mohn auf den europäischen Schlachtfeldern die namenlosen Gräber unzähliger junger Menschen bedeckte, die dazu verdammt gewesen waren sich gegenseitig zu töten. Der Titel von Dharkers Gedicht, „A Century Later” („Ein Jahrhundert später”), ließe sich also als Fortschreibung dieser Ereignisse interpretieren, als Blick auf eine Welt, die immer noch von Gewalt bestimmt ist.

Man kann Dharkers Gedicht allerdings auch als positiven Ausblick auf eine ferne Zukunft sehen, die  durch den entschlossenen Widerspruch eines einzelnen Mädchens im Hier und Jetzt möglich wird:

[…] Bullet, she says, you are stupid.

You have failed. You cannot kill a book

or the buzzing in it.

br

A murmur, a swarm. Behind her, one by one,

the schoolgirls are standing up

to take their places on the front line.5

br

Kugel, sagt sie, Du bist dumm.

Du hast versagt. Du kannst kein Buch töten

oder das Summen darin.

br

Ein Murmeln, ein Schwarm. Hinter ihr, eine nach der andern,

stehen die Schulmädchen auf

und nehmen ihren Platz ein an forderster Front.

Fazit

Durch die Beschreibung der Mädchengruppe als „Schwarm” soll in der letzten Strophe offenkundig eine tiefe innere Verbindung zwischen dem „Summen” der Bücher und den mutigen Schülerinnen verdeutlicht werden, die dafür einstehen, sich die gedruckten Inhalte zu eigen machen zu dürfen. Letztlich scheint mir das Bild eines „Schwarms” allerdings zu konformistisch, um überzeugen zu können. Positiv ist dagegen, dass Dharker mit ihrer Antwort auf Wilfred Owen die Macht gewaltlosen Widerstands vor Augen führt und diese in selbstbewusster direkter Rede ihren Ausdruck findet, wodurch letztlich den unterdrückten Mädchen eine Stimme gegeben wird.

K. Heup


1) Wilfred Owen, “Anthem of Doomed Youth”, in A Collection of First World War Poetry. Ed. by J. Borsbey and R. Swan. (Recanati: ELI Readers, 2013), 80

2) Ibid.

3) Imtiaz Dharker, “A Century Later”, in The Hundred Years’ War. Modern War Poems. Ed. by Neil Astley. (Eastburn: Bloodaxe Books, 2014), 594

4) Ibid.

5) Ibid.

Foto: Heup, On the Road to Neuhaus, 2014

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