Eine Neujahrs-Novelle aus Dänemark

Für manche geht der Jahresanfang einher mit ausgelassenen Partys und Familientreffen, für andere bedeutet er ruhige, gemütliche Wintertage. Wer den Blick zurückschweifen lassen möchte, findet in Blichers 1824 entstandener Novelle „Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters“ ein nachdenkliches kleines (Tage)Büchlein für einen stillen Leseabend.

Die Geschichte beginnt am 1. Januar 1708 im dänischen Jütland: „Gott schenke uns Allen ein glückliches Neues Jahr! und beschütze unsern guten Herrn Søren! er löschte gestern abend das Licht, und Mutter sagt, er lebt nicht bis zum nächsten Neujahr“ (S. 7). So schreibt der fünfzehnjährige Morten in sein Tagebuch. Die Sorge um Pfarrer Søren entspringt einem alten Aberglauben, dass derjenige sterben werde, der an Silvester das Licht löscht. Unerwarteterweise erfüllt sich ein Jahr später die böse Vorahnung. Mit dem Tod des Pfarrers enden die Latein- und Griechischstunden, die Mortens bisheriger Lebensmittelpunkt waren. Als kurz darauf auch sein Vater stirbt, muss er den Traum, selbst einmal Pfarrer zu werden endgültig aufgeben und sich seinen Unterhalt verdienen. Jens, der ungestüme Pfarrerssohn, der schon zu Lebzeiten seines Vaters immer lieber mit der Büchse die Gegend durchstreifte als sich dem Studium alter Sprachen zu widmen und sich inzwischen bei einem Gutsherrn in Thiele als Jäger verdingt, verschafft Morten dort eine Anstellung als Diener.

Mit dem neuen Lebensabschnitt ändert sich Mortens Sprache. Liebte er es früher, seine Tagebucheinträge mit lateinischen Versatzstücken zu versehen, so lernt er jetzt mit Eifer Französisch und schreibt Sätze wie „Ein plaisantes Wetter! Die Sonne geht rot wie brennende Glut auf! Es sieht recht curieux aus, wenn sie so durch die weißen Bäume scheint“ (S. 21). Grund für diese Wandlung ist Mortens leidenschaftliche Verehrung des schönen Fräulein Sophie. Obwohl die flatterhafte Tochter des Gutsherrn für ihn unerreichbar bleibt, kann Morten sie nicht vergessen. Selbst als ihn eine Reise mit Junker Kersten nach Kopenhagen führt, sie von schwedischen Kaperern angegriffen werden und Pest und Pocken die herrschaftliche Familie bedrohen, kreisen Mortens Gedanken meist um Sophie: „sie ist genauso munter und vive wie vorher, eher mehr; aber trotzdem ab und an so etwas wie hoffärtig. Manchchmal spricht sie mit mir wie zu einem Bettelburschen, und machmal, als wäre ich ihresgleichen. Ich glaube fast, sie will mich zum besten halten – ich armer Kerl! Ich bin noch nicht klug geworden, denn sie kann mich froh und traurig machen, wie sie will.“ (S. 43).

Eine dritte Lebensphase beginnt, als Morten erkennt, dass sich das oberflächliche gnädige Fräulein für seinen Freund, den wilden „Teufels-Jens oder […] Mägde-Jens“ (S. 14) interessiert. Er verlässt das Gut, gerät in schwedische Kriegsgefangenschaft und schlägt sich in Sibirien als Jäger durch. Jahrzehnte gehen ins Land, bis Morten in die Heimat zurückkehrt und in seinen „letzten Winterhafen“ (S. 66) einläuft. Er blickt zurück auf sein Leben und auf ein zufälliges Wiedersehen mit Jens und Sophie, das ihn sehr erschüttert hat. In Thiele fühlt er sich einsam: „Jetzt ist meine Seele dunkel wie die Heide, wenn der Winterschnee weggetaut ist“ (S. 68). Halt und Zuversicht gibt ihm jedoch sein Glaube. Daher ist es nun die Bibel, aus der Zitate in Mortens letzte Tagebuchnotizen einfließen, welche die unspektakuläre Lebensgeschichte eines Mannes beschließen, der bescheiden in der Kirche seiner Kindheit den Küsterdienst versieht: „Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit.’“ (S. 69).

BlicherPortraitDie Novellen von Steen Steensen Blicher (1782-1848), dem Pfarrer in der jütländischen Heide, gehören heute zum klassischen Kanon dänischer Literatur. Seine „Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters“ ergeben in wenigen Worten ein kleines gesellschaftliches Mosaik des 19. Jahrhunderts und das zeitlose Bild eines Individuums auf Sinnsuche. Der Text ist im Projekt Gutenberg vollständig abrufbar, aber für interessierte Leser empfiehlt sich eine annotierte Buchausgabe.  

K. Heup

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Textnachweis:

Steen Steensen Blicher, Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters. Hg. v. Walter Boehlich. Berlin: Friedenauer Presse, 1993

 

Illustrationen:

Eifler Dorfkreuz, 27.12.14. Foto: Heup

”’Steen Steensen Blicher”’ (11. oktober 1782 – 26. marts 1848), dansk præst og forfatter. Image from/fra da:J. P. Trap: berømte danske mænd og kvinder, 1868


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