“Welt”-Literaturpreis für Haruki Murakami
Am 7. November 2014 erhält Haruki Murakami in Berlin den mit 10.000 Euro dotierten “Welt”-Literaturpreis. Damit reiht sich der am 12. Januar 1949 in Kyoto geborene japanische Schriftsteller in die Gruppe von Preisträgern der Tageszeitung “Die Welt” ein, zu der bereits Jonathan Franzen (2013), Zeruya Shalev (2012), Albert Ostermaier (2011), Claude Lanzmann (2010), Philip Roth (2009), Hans Keilson (2008), Daniel Kehlmann (2007), Rüdiger Safranski (2006), Yasmina Réza (2005), Amos Oz (2004), Jeffrey Eugenides (2003), Leon de Winter (2002), Pat Barker (2001), Imre Kertész (2000) und Bernhard Schlink (1999) gehören.1
In der Laudatio wird Murakami unter anderem als Meister des magischen Realismus gefeiert, der “die Seelenzustände japanischer Großstadtbewohner wie selbstverständlich ins Übersinnliche transzendiert”2. Dieses Erzählprinzip findet sich auch in Murakamis Erzählung “Schlaf”, die der Dumont Verlag 2009 als eigenständigen Band mit Bildern von Kat Menschik herausbrachte.
Murakamis realistisch-fantastische Erzählung “Schlaf”
Schlaflosigkeit ist ein Zustand, mit dem die Ich-Erzählerin vertraut ist. Schon als Studentin durchlitt sie eine Phase, während der lang anhaltender Schlafentzug ihre Wahrnehmung trübte und sie gleichsam in einen Strudel hüllte, der sie ihrem eigenen Körper und der Welt um sie herum entfremdete:
Wie bei einer Wasserleiche war jede Empfindung aus meinem Körper gewichen. Alles war dumpf und trübe. Der Zustand, in dem ich in dieser Welt lebte und existierte, war wie eine vage Halluzination. [...] Wenn es Abend wurde, überkam mich eine erbarmungslose Wachheit. Ich war vollkommen ausgeliefert. Eine große Macht fesselte mich an ihren Grund.3
Jahre später, als aus der jungen Literaturstudentin eine inzwischen dreißigjährige Zahnarztgattin geworden ist, deren Leben in geregelten Bahnen verläuft, bricht plötzlich eine neue Zeit des Nicht-schlafen-Könnens an. Auslöser ist ein Albtraum: Die namenlose Erzählerin glaubt, einen alten Mann an ihrem Bett zu sehen, der ihre Füße mit Wasser überschüttet. Nach diesem verstörenden Traum durchwacht sie 17 Tage und Nächte.
Die Zeit ohne Schlaf hat jedoch nichts mit der quälenden Schlaflosigkeit von einst zu tun. Sie kommt vielmehr einer inneren Befreiung gleich: So entdeckt die Erzählerin ihre Liebe zum Lesen wieder, die im Alltag der Ehefrau, Hausfrau und Mutter eines kleinen Sohnes unmerklich in Vergessenheit geraten war, und auch ihre Lust auf Schokolade, die sie sich versagte, weil ihr Mann sie missbilligt. Sie genießt die Stunden, die nur ihr gehören, schwimmt mit neuer Energie und liest fasziniert von Tolstois Anna Karenina, die im Russland des 19. Jahrhunderts in einer leidenschaftslosen Ehe gefangen ist. Daneben ‘funktioniert’ sie weiterhin für ihren Mann und ihren Sohn, die mit ihr mittags über Zahnsteinentfernung und abends über Schularbeiten sprechen.
Ich kaufte pflichtgemäß ein, kochte, putzte und spielte mit meinem Sohn. Ich schlief pflichtgemäß mit meinem Mann. Erst einmal daran gewöhnt, war es gar nicht weiter schwierig. Im Gegenteil, es war einfach. Ich brauchte nur die Verbindung zwischen Kopf und Körper zu kappen. [...] Niemand bemerkte, dass ich mich verändert hatte. Dass ich ganz und gar aufgehört hatte zu schlafen, dass ich unentwegt Bücher las, dass sich mein Kopf mehrere hundert Jahre und mehrere tausend Kilometer von der Realität entfernt hatte.4
Der Roman “Anna Karenina” wird für sie zum Anlass, um über sich und ihre Familie nachzudenken. Sie erkennt, dass die Fantasielosigkeit ihres Mannes und ihres Sohnes sie immer trennen werden, dass sie sich nach Freiheit sehnt und nach Antworten sucht auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Dasein nach dem Tod. Dabei verschwimmen Traumbilder und Wirklichkeit in zunehmend bedrohlicher Weise. Das offene Ende der Erzählung liefert keine Antworten. Der Leser bleibt zurück mit dem Gefühl, dass der Schlüssel zur Beantwortung existenzieller Fragen mitunter zum Greifen nah scheinen mag und doch unerreichbar bleibt, dass Sicherheit eine Illusion ist und jederzeit Schatten aus dem Dunkel auftauchen können, um unser vertrautes Selbst- und Weltbild gewaltsam umzustürzen.
Kat Menschiks surreale Illustrationen
Murakamis kryptische, aber in einfacher Sprache erzählte Geschichte wurde von Kat Menschik eindrucksvoll illustriert. Vor nachtblauem Hintergrund heben sich surreale, teils holzschnittartige Bilder in Weiß und Silber ab, die die Grundstimmung des Textes verstärken und im Stil an eine Graphic Novel erinnern. Wer das Buch öffnet, sollte sich Zeit nehmen, um Nachtfalter, Quallen, Papierflieger und Zeppeline zu betrachten, die über die Seiten schweben, und den Leser wortlos zum Innehalten auffordern.
…………………………………………………………….
Anmerkungen:
1 Vgl.: Richard Kämmerlings, Haruki Murakami erhält “Welt”-Literaturpreis 2014, 3. 10.2014
2 Ibid.
3 Haruki Murakami, Schlaf. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Mit Illustrationen von Kat Menschik. Köln: Dumont, 2009, S. 7
4 Ibid., S. 51f
(“Schlaf” erschien ursprünglich in deutscher Übersetzung in Haruki Murakami, Der Elefant verschwindet. Erzählungen. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2003, S. 79 – 130)
Illustration:
‘Portrait of Gao Yong’s Wife‘, ink on paper by Ren Yi (1840-1896), 1886, Honolulu Academy of Arts