Nadine Gordimer, 1923 in der Nähe von Johannesburg geboren, gehörte über Jahrzehnte zu den Autoren, die mit ihren Büchern für ein besseres und gerechteres Südafrika eintraten. Als die Literaturnobelpreisträgerin am 13. Juli 2014 im Alter von 90 Jahren starb, nannte die FAZ sie eine „Chronistin des Umbruchs in Südafrika“ und der Spiegel würdigte sie als „unkorrumpierbare Kritikerin der Rassentrennung“. Im Folgenden werden zwei Kurzgeschichten vorgestellt, in denen Gordimer auf eindrucksvolle Weise ihre Gesellschaftskritik durch das Löwenmotiv zum Ausdruck bringt:
In „The Train from Rhodesia“ drängen sich unterernährte Menschen und Tiere zwischen Lehmhütten und erwarten die Ankunft des nahenden Zuges. Als dieser einfährt, zeigt sich die enorme Kluft zwischen Arm und Reich. Während die einheimischen Kinder um Münzen betteln, wirft ein Mädchen aus einem der Zugfenster beiläufig den Hunden Schokolade zu, auf die sich die mageren Hühner stürzen. Aus einem anderen Abteilfenster lehnt eine junge Frau und signalisiert Interesse am Kauf einer hölzernen Löwenstatue, die ein alter Mann in der Menge feilbietet. Nur wenige Cent, three shillings and sixpence, verlangt der Alte für seine Schnitzerei, doch dann fällt der Blick der jungen Frau auf all die afrikanischen Souvenirs, die sich in den Gepäcknetzen und unter den Sitzen stapeln: „How will they look at home? Where will you put them? What will they mean away from the places you found them? Away from the unreality of the last few weeks?“1. Sie schüttelt den Kopf und zieht sich zurück.
Als der Zug sich kurz darauf wieder in Bewegung setzt, schwenkt ihr Mann triumphierend die Löwenstatue wie eine Trophäe. Sie aber reagiert ablehnend, betroffen und schroff: „If you wanted the thing, […] why didn’t you buy it in the first place? If you wanted it, why didn’t you pay for it? Why didn’t you take it decently, when he offered it? Why did you have to wait for him to run after the train with it, and give him one-and-six? One-and-six!“2 Ihre Vorhaltungen versteht der Ehemann nicht, der mit einem Lob für den günstigen Handel gerechnet hatte. In ihr jedoch baut sich ein überwältigendes Gefühl von Scham über die scheinbar so selbstverständliche Entwürdigung und Ausbeutung des alten Mannes auf:
Everything was turning round inside her. One-and-six. One-and-six. One-and-six for the wood and the carving and the sinews of the legs and the switch of the tail. The mouth open like that and the teeth. The black tongue, rolling, like a wave. The mane round the neck. To give one-and-six for that. The heat of shame mounted through her legs and body and sounded in her ears like the sound of sand pouring. Pouring, pouring.3
In diesem Moment wird ihr, in dem mit beliebigen Andenken gefüllten Zugabteil, schmerzlich bewusst, dass sie die Leere ihres Lebens, der sie nicht zuletzt durch ihre Eheschließung entgehen wollte, nicht länger ausblenden kann und dass diese ihren weiteren Weg bestimmen wird.
Einen völlig anderen Handlungsort wählt Gordimer in „A Lion on the Freeway“. Das Leben spielt sich hier inmitten einer Metropole ab. Omnipräsent sind in der Großstadt die Geräusche aus dem nahen Zoo, vor allem das Keuchen und Ächzen der Löwen, das sich gelegentlich zu einem Brüllen steigert. „It [the sound] grows and grows, deeper, faster, more rasping, until a great groan lifts out of the curved bars of the cage and hangs above the whole city.“4
Das vernehmliche Atmen der Raubtiere liegt wie eine bedrohliche Wolke über der schlaflosen Stadt. Der neue fünfspurige Freeway mit seinem hohen Verkehrsaufkommen überdeckt zwar die animalischen Geräusche und schafft eine Kulisse von „city silence“5. Manchmal aber reicht eine leichte Brise und das Keuchen lässt wieder das Trommelfell erzittern. Ein anderes Mal wird dieser Eindruck durch eine Zeitungsmeldung ausgelöst, wie die über den Streik der schwarzen Hafenarbeiter: „They went all through the city not far from this one, their steps are so rhythmical, waving sticks (no spears any more, no guns yet); they can cover any distance in any time.“6 So entsteht eine surreale Vision Afrikas, in der der Schrei der schwarzen Demonstranten, die ihre Ghettos verlassen, verschmilzt mit dem Bild des gefangenen Löwens, dem sich die Käfiggitter öffnen und der sich – verwirrt und desorientiert – auf dem Freeway wiederfindet, um letztlich zu beanspruchen, was ihm gehört und was er nie gesehen hat: das Land der Löwen, „the country where he’s king.“7
Illustration:
Albrecht Dürer, Two seated lions, 1521
Textnachweise:
1) Nadine Gordimer, “The Train from Rhodesia”, in Adventures in English Literature (Orlando: Harcourt Brace Jovanovich, 1980), 782f
2) Ibid., 783
3) Ibid., 784
4) Nadine Gordimer, “A Lion on the Freeway”, in Short Short Stories Universal. Stories from the English-speaking World, ed. by Reingard M. Nischik (Stuttgart: Reclam, 1993), 72
5) Ibid., 75
6) Ibid., 76
7) Ibid., 77