Damon Galgut, The Good Doctor (Lesson Plan 2)

In post-apartheid Cape Town or Johannesburg one may find the highest standards of medical care. In the small rural hospital in a poverty-stricken former homeland the very opposite is true. Doctors work with little equipment, without professionally trained nurses and without the slightest hope of ever changing the situation. Frank Eloff has long given up on the idea of improving things in this desolate place, but newcomer Laurence Waters is determined to make a difference. If this make him a “good doctor” – or at least a “better doctor” than his colleague – is one of the questions the novel raises during the following chapters. To begin at the beginning, here are a few suggestions for an introductory session on Chapter 1 and 2.

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Frau Müller muss weg

Am 15. Januar 2015 startete Sönke Wortmanns Verfilmung „Frau Müller muss weg“ in den deutschen Kinos. Die 2010 in Dresden uraufgeführte Komödie von Lutz Hübner wurde am 7. Januar 2015 auch im Essener Rathaustheater gespielt, mit Claudia Rieschel als engagierte Grundschullehrerin und Gerit Kling, Wolfgang Seidenberg, Iris Boss, Katrin Filzen und Thomas Martin in der Rolle überbesorgter Eltern.

Ironischerweise gibt es zu Beginn des Elternabends an der Grundschule Blumen für die langjährige Klassenlehrerin, bevor die Eltern Frau Müller auffordern die Leitung der vierten Klasse abzugeben. Der elterliche Vorwurf, der Lehrerin fehle ein pädagogisches Konzept, wird im Folgenden schnell als fadenscheiniger Vorwand entlarvt. Als Frau Müller die Sitzung zeitweise verstört verlässt, kauern die Eltern weiter auf den viel zu kleinen Stühlchen hinter den Pulten ihrer Kinder und erweisen sich als Aufrührer ohne Augenmaß, Schleimer, Mitläufer, Hysteriker oder kühl kalkulierende Strategen, die das Lebensglück des eigenen Kindes mit der Gymnasialempfehlung gleichsetzen:

"Wer den falschen Schultypus erwischt, kann einpacken, ist aussortiert und kommt nicht mehr hoch. Das ist der Albtraum aller Eltern und dagegen wird gekämpft, mit allen Mitteln, über und auch gern unter der Gürtellinie. Sachlichkeit und Objektivität spielen keine Rolle, es geht schließlich um alles: um das eigene Kind. Das Wohl des Kindes ist die natürliche Grenze von Toleranz, Multikulturalismus, sozialer Verantwortung und eines Wertesystems, das auf dem kategorischen Imperativ fußt."
Lutz Hübner: Warum Frau Müller weg muss, Programmheft, S. 4

Entsprechend vorhersehbar ist der grundlegende Meinungsumschwung unter den Eltern, als sie glauben, Frau Müller könnte aufgrund allzu nachsichtiger Notengebung ihren Kindern doch noch den Weg ins gelobte Land, also ins Gymnasium, ebnen. Auch die Stereotypen, mit denen das Stück spielt, überraschen nicht: Da gibt es Eltern, die die Modenamen ihrer Kinder nicht aussprechen können, so dass Janine als „Schahnien“ durchs Leben gehen muss, Eltern, die Aggressivität und schlechte Leistungen mit Hochbegabung verwechseln und Eltern, die akribisch die Hausaufgaben ihrer Kinder erledigen, ohne dass diese selbst dabei auch nur in Sichtweite wären. Zuschauer werden in diesem leichten Boulevardstück also viel Bekanntes entdecken, dass sie mit einem zustimmenden Kopfnicken quittieren können. Zwar hätte der Komödie insgesamt etwas mehr Wortwitz nicht geschadet, aber das Ensemble des Tourneetheaters unter der Regie von Kay Neumann hat das Stück professionell im Wechsel von lauten und leisen Tönen umgesetzt. 

K. Heup

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Illustration:

Magnus Enckell, Kansakoulu (Grundschule), 1899


 

Eine Neujahrs-Novelle aus Dänemark

Für manche geht der Jahresanfang einher mit ausgelassenen Partys und Familientreffen, für andere bedeutet er ruhige, gemütliche Wintertage. Wer den Blick zurückschweifen lassen möchte, findet in Blichers 1824 entstandener Novelle „Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters“ ein nachdenkliches kleines (Tage)Büchlein für einen stillen Leseabend.

Die Geschichte beginnt am 1. Januar 1708 im dänischen Jütland: „Gott schenke uns Allen ein glückliches Neues Jahr! und beschütze unsern guten Herrn Søren! er löschte gestern abend das Licht, und Mutter sagt, er lebt nicht bis zum nächsten Neujahr“ (S. 7). So schreibt der fünfzehnjährige Morten in sein Tagebuch. Die Sorge um Pfarrer Søren entspringt einem alten Aberglauben, dass derjenige sterben werde, der an Silvester das Licht löscht. Unerwarteterweise erfüllt sich ein Jahr später die böse Vorahnung. Mit dem Tod des Pfarrers enden die Latein- und Griechischstunden, die Mortens bisheriger Lebensmittelpunkt waren. Als kurz darauf auch sein Vater stirbt, muss er den Traum, selbst einmal Pfarrer zu werden endgültig aufgeben und sich seinen Unterhalt verdienen. Jens, der ungestüme Pfarrerssohn, der schon zu Lebzeiten seines Vaters immer lieber mit der Büchse die Gegend durchstreifte als sich dem Studium alter Sprachen zu widmen und sich inzwischen bei einem Gutsherrn in Thiele als Jäger verdingt, verschafft Morten dort eine Anstellung als Diener.

Mit dem neuen Lebensabschnitt ändert sich Mortens Sprache. Liebte er es früher, seine Tagebucheinträge mit lateinischen Versatzstücken zu versehen, so lernt er jetzt mit Eifer Französisch und schreibt Sätze wie „Ein plaisantes Wetter! Die Sonne geht rot wie brennende Glut auf! Es sieht recht curieux aus, wenn sie so durch die weißen Bäume scheint“ (S. 21). Grund für diese Wandlung ist Mortens leidenschaftliche Verehrung des schönen Fräulein Sophie. Obwohl die flatterhafte Tochter des Gutsherrn für ihn unerreichbar bleibt, kann Morten sie nicht vergessen. Selbst als ihn eine Reise mit Junker Kersten nach Kopenhagen führt, sie von schwedischen Kaperern angegriffen werden und Pest und Pocken die herrschaftliche Familie bedrohen, kreisen Mortens Gedanken meist um Sophie: „sie ist genauso munter und vive wie vorher, eher mehr; aber trotzdem ab und an so etwas wie hoffärtig. Manchchmal spricht sie mit mir wie zu einem Bettelburschen, und machmal, als wäre ich ihresgleichen. Ich glaube fast, sie will mich zum besten halten – ich armer Kerl! Ich bin noch nicht klug geworden, denn sie kann mich froh und traurig machen, wie sie will.“ (S. 43).

Eine dritte Lebensphase beginnt, als Morten erkennt, dass sich das oberflächliche gnädige Fräulein für seinen Freund, den wilden „Teufels-Jens oder […] Mägde-Jens“ (S. 14) interessiert. Er verlässt das Gut, gerät in schwedische Kriegsgefangenschaft und schlägt sich in Sibirien als Jäger durch. Jahrzehnte gehen ins Land, bis Morten in die Heimat zurückkehrt und in seinen „letzten Winterhafen“ (S. 66) einläuft. Er blickt zurück auf sein Leben und auf ein zufälliges Wiedersehen mit Jens und Sophie, das ihn sehr erschüttert hat. In Thiele fühlt er sich einsam: „Jetzt ist meine Seele dunkel wie die Heide, wenn der Winterschnee weggetaut ist“ (S. 68). Halt und Zuversicht gibt ihm jedoch sein Glaube. Daher ist es nun die Bibel, aus der Zitate in Mortens letzte Tagebuchnotizen einfließen, welche die unspektakuläre Lebensgeschichte eines Mannes beschließen, der bescheiden in der Kirche seiner Kindheit den Küsterdienst versieht: „Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit.’“ (S. 69).

BlicherPortraitDie Novellen von Steen Steensen Blicher (1782-1848), dem Pfarrer in der jütländischen Heide, gehören heute zum klassischen Kanon dänischer Literatur. Seine „Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters“ ergeben in wenigen Worten ein kleines gesellschaftliches Mosaik des 19. Jahrhunderts und das zeitlose Bild eines Individuums auf Sinnsuche. Der Text ist im Projekt Gutenberg vollständig abrufbar, aber für interessierte Leser empfiehlt sich eine annotierte Buchausgabe.  

K. Heup

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Textnachweis:

Steen Steensen Blicher, Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters. Hg. v. Walter Boehlich. Berlin: Friedenauer Presse, 1993

 

Illustrationen:

Eifler Dorfkreuz, 27.12.14. Foto: Heup

”’Steen Steensen Blicher”’ (11. oktober 1782 – 26. marts 1848), dansk præst og forfatter. Image from/fra da:J. P. Trap: berømte danske mænd og kvinder, 1868


Stille Nacht in den Schützengräben 1914

Der amerikanische Historiker Stanley Weintraub spürt in seinem Buch „Silent Night. The Remarkable Christmas Truce of 1994“ den Ereignissen an Weihnachten 1914 nach, als aus umkämpften Kriegsschauplätzen für kurze Zeit Orte des Friedens wurden.

You no shoot, we no shoot!

Weihnachten ohne Waffen, nur wenige Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Es klingt wie ein moderner Mythos, dass verfeindete Soldaten am Heiligabend 1914 eine gemeinsame „Stille Nacht“ in europäischen Schützengräben erlebt haben sollen. Die Chancen für eine Feuerpause standen denkbar schlecht, nachdem nicht nur in Flandern und Frankreich die Kämpfe erbittert geführt und zwischen August und Dezember 1914 bereits hunderttausende junger Männer getötet, verwundet oder vermisst gemeldet worden waren. Einigkeit schien zwischen den politischen und militärischen Führern nur darin zu bestehen, dass die von Papst Benedikt XV vorgeschlagene Waffenruhe unmöglich sei.

Und doch geschah, was Weintraub im ersten Kapitel „An Outbreak of Peace“ nennt. Desillusioniert, ausgelaugt und zermürbt von der grausamen Realität des tagtäglichen Tötens und dem winterlichen Dauerregen, der die Schlachtfelder in nasskalte Schlammwüsten verwandelt hatte, sehnten sich viele Soldaten an der Westfront nach ein wenig Menschlichkeit inmitten eines unmenschlichen Krieges. Weintraub zitiert in diesem Zusammenhang den deutschen Maler Otto Dix, der seine Kriegserfahrungen so zusammenfasste: „lice, rats, barbed wire, fleas, shells, bombs, underground caves, corpses, blood, liquor, mice, cats, artillery, filth, bullets, mortars, fire, steel: that’s what war is. It is the work of the devil.’“1

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David Nicholls: Drei auf Reisen

Im Herbst 2014 erschien David Nicholls‘ Roman „Us” in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Drei auf Reisen“ im Kein & Aber Verlag. Die „Drei“ – das sind Douglas Petersen, seine Frau Connie und ihr gemeinsamer Sohn Albie.

Biochemiker Douglas Petersen ist ein Mann, die sich in nur drei Worten beschreiben lässt: ein netter Kerl. Er ist konservativ bis spießig, aber bestens organisiert; in emotionalen Belangen unbeholfen, aber bemüht. Die Ankündigung seiner Frau, dass sie mit dem Gedanken spiele ihn zu verlassen, verunsichert ihn zutiefst. Unsicher ist er auch in ästhetischen Fragen, in denen er glaubt, anders als seine Frau und sein Sohn, nicht auf die eigene Intuition vertrauen zu können.

Künstlerin und Freidenkerin Connie, leidenschaftlich und chaotisch, begegnet Douglas beim ersten Kennenlernen als geduldige und einfühlsame Zuhörerin. Seine wissenschaftlich motivierte Fruchtfliegen-Faszination nimmt sie mit Humor und macht Fliege Bruce zu ihrem ersten gemeinsamen „Haustier“. Die Gegensätzlichkeit der beiden bleibt trotzdem offenkundig und nach 20 gemeinsamen Jahren stellt Connie sich nicht zum ersten Mal die Frage, was sie und ihren Mann eigentlich verbindet.

Sohn Albie, der kurz vor dem Schulabschluss steht und später Fotografie studieren will, sieht sich selbst ganz in der Rolle des vom Vater missverstandenen und missachteten Rebellen. Sein Verhalten ist schlicht spätpubertär, denn noch steckt Albie voll jugendlichem Egoismus, Überlegenheitsgefühl und Drang nach Anderssein.

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Zum 80. Todestag von Joachim Ringelnatz

Am 17. November 2014 erinnern wir an Joachim Ringelnatz (1883 – 1934), den deutschen Kabarettisten, Sprachjongleur und Nonsense-Dichter. Die Liste der (Berufs)Bezeichnungen des Hans Bötticher, der unter verschiedenen Pseudonymen etwa 2.500 Gedichte verfasste, könnte man fast beliebig verlängern. Lehrerschreck, Leichtmatrose und Lebenskünstler gehören zweifellos dazu.

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Anna Kareninas kleine japanische Schwester

“Welt”-Literaturpreis für Haruki Murakami

Am 7. November 2014 erhält Haruki Murakami in Berlin den mit 10.000 Euro dotierten “Welt”-Literaturpreis. Damit reiht sich der am 12. Januar 1949 in Kyoto geborene japanische Schriftsteller in die Gruppe von Preisträgern der Tageszeitung “Die Welt” ein, zu der bereits Jonathan Franzen (2013), Zeruya Shalev (2012), Albert Ostermaier (2011), Claude Lanzmann (2010), Philip Roth (2009), Hans Keilson (2008), Daniel Kehlmann (2007), Rüdiger Safranski (2006), Yasmina Réza (2005), Amos Oz (2004), Jeffrey Eugenides (2003), Leon de Winter (2002), Pat Barker (2001), Imre Kertész (2000) und Bernhard Schlink (1999) gehören.1

In der Laudatio wird Murakami unter anderem als Meister des magischen Realismus gefeiert, der “die Seelenzustände japanischer Großstadtbewohner wie selbstverständlich ins Übersinnliche transzendiert”2. Dieses Erzählprinzip findet sich auch in Murakamis Erzählung “Schlaf”, die der Dumont Verlag 2009 als eigenständigen Band mit Bildern von Kat Menschik herausbrachte.

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“Was liest du?” mit Jochen Malmsheimer

Es ist Halloween. Fröhliche Monster und feierfreudige Untote bevölkern die Straßen, beäugt mit steinernem Fledermausblick. Daneben schaut von der Fassade des Kölner Metropoltheaters ein Narr und Possenspieler auf die Besucher vor dem Theatereingang herab, die an diesem Abend auf knochenbleiche Schminke und Kunstblut verzichtet haben. Statt Gruselshow & Gänsehaut wartet auf sie nämlich eine Neuauflage der Lach- & Lesesendung “Was liest du?” von und mit Jürgen von der Lippe. Die Wiederaufnahme des bekannten Konzepts in zwei Sondersendungen kommentiert von der Lippe gewohnt ironisch: „Ich bin begeistert, dass der WDR dieses erzieherisch wertvolle und unterhaltsame kleine Format noch einmal aufleben lässt, zumal Schönheit und Jugend des Moderators gegenüber Witz und Buchwissen nachrangig sind”.

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Mit Hermann Hesse durch den Herbst

Der deutsche Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse (1877-1962) hat nicht wenige Gedichte, Briefe und Romanauszüge über die Jahreszeit hinterlassen, die für Wandel, Abschied, Vergänglichkeit und Verfall steht. Ulrike Anders hat Hesses im Suhrkamp Verlag erschienene „Sämtliche Werke“ durchforstet und mit „Herbst“ ein Kaleidoskop dessen erstellt, was den Schriftsteller am Nachsommer faszinierte. Da ist die Rede von langen Spaziergängen durch die Natur, von der Magie der Farben im Herbstwald, dem Duft des Weins, Kindheitserinnerungen an “Knabenstunden mit Schmetterlingsnetz und Botanisierbüchse”1. Der beginnende Frost bringt eine Sehnsucht nach dem sonnigen Italien, aber auch ein Gefühl der „Ofenbehaglichkeit“2 im Zimmer, dessen liebevolle Einrichtung den Sommer über unbeachtet geblieben war.

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Imtiaz Dharker: Ein Jahrhundert später

Eine literarische Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Malala Yousafzai, Friedensnobelpreisträgerin 2014

Am 10. Oktober 2014 richtete sich die Aufmerksamkeit der Medien schlaglichtartig auf die Rechte von Kindern in aller Welt, nachdem das Nobelpreiskomitee in Oslo bekannt gegeben hatte, dass sich die pakistanische Schülerin Malala Yousafzai und der indische Kinderrechtsaktivist Kailash Satyarthi den Friedensnobelpreis teilen. Das Schicksal Malalas hatte bereits 2012 für weltweite Schlagzeilen gesorgt, als extremistische Taliban in ihrem Heimatort einen Schulbus stürmten, um an ihr ein Exempel zu statuieren. Die damals fünfzehnjährige Malala, die sich offen über ein Verbot von Schulbildung für Mädchen hinweggesetzt hatte, sollte zur Abschreckung für andere durch gezielte Schüsse in den Kopf hingerichtet werden. Der Plan der Terroristen misslang, denn Malala überlebte schwer verletzt und wurde zur Symbolfigur für die Gleichberechtigung von Mädchen. Ihre Popularität nutzte sie nach ihrer Genesung, um weiter öffentlich für ihr Anliegen einzutreten: das Recht jedes Kindes auf Bildung.

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Herbstliches Wortspiel von Minette Walters

Der Lese-Tipp zum Herbstbeginn: Minette Walters ‘English Autumn – American Fall’ ist eine ultrakurze Crime Story für alle, die neben dem Verbrechen das Spiel mit Sprache lieben. Die beiden Synonyme im Titel spiegeln die Ausgangssituation: Ein kalter englischer Herbst – ein (k)altes amerikanisches Ehepaar im Herbst des Lebens. Nachdem die Newbergs ihr Hotelzimmer bezogen haben, geben sie ihrem Umfeld Rätsel auf. Wieso haben sie angeblich den Sonnenstaat Florida verlassen, um im Oktober Urlaub im stürmischen und regnerischen Lincolnshire zu machen? Wieso ist Frau Newberg so übertrieben bemüht den Schein zu wahren, obwohl ihr Mann offenbar trinkt und sie schlägt? Das Homonym „fall“, das je nach Zusammenhang unterschiedliche Bedeutungen haben kann, deutet bereits vorab an, wie es weitergeht… 


Illustration:

Albert Bierstadt, Autumn Woods, 1886

Textnachweis:

Minette Walters, “English Autumn – American Fall”, in Crime from the Mind of a Woman. A Collection of Women Crime Writers of the Century. Ed. by Elizabeth George (London: Hodder and Stoughton, 2002), 548

 

Das Schweigen der Engländer

Typisch deutsch, typisch englisch!? Nationale Unterschiede können ein Minenfeld sein, ein Stereotypen-Dschungel, ein Parcours de force der Fettnäpfchen und Klischees – es sei denn, man widmet sich dem Thema mit einem (selbst)ironischen Augenzwinkern.

Deutsche und Engländer

Als Neil Deane am 16. Juli in Essen sein Buch „Modern Germany. An outsider’s view from the inside“ vorstellte, durfte der Engländer bei seinen Zuhörern auf freundliche Nachsicht und auch ein wenig Mitleid hoffen. Ein waschechter Brite, den es mitten in den „Ruhrpott“ verschlägt, hat es wahrlich nicht leicht, außer vielleicht an Tagen, an denen Dortmund und Schalke Heimspiele bestreiten und ausgeflippte Fußballfans und Hooligans so etwas wie Heimatgefühle aufkommen lassen. Ansonsten aber, dass muss man zugeben, können einem die Deutschen das Leben wirklich schwer machen. Es wundert also nicht, wenn morgens „a grumpy and unkempt Englishman“ auf dem Beifahrersitz hockt, nachdem ihn seine pflichtbewusste deutsche WG-Mitbewohnerin mitten in der Nacht aus dem Bett getrommelt hat, um auf dem Weg zur Arbeit die A So-und-so vor dem üblichen 7 Uhr-Stau hinter sich zu lassen. Wo sonst auf der Welt, fragt sich der verschlafene Exil-Engländer, hätte man je von einem Stau um sieben Uhr morgens gehört?

Ja, die Deutschen sind aus englischer Sicht ein exzentrisches Volk. Sie sind geradezu eigenartig tolerant, zeigen einen erstaunlichen Mangel an Nationalstolz und eine tiefsitzende Skepsis gegenüber allem, was im Entferntesten nach Nationalstolz aussieht. Glaubt man Neil Deane, hält der Engländer vor allem Letzteres für therapiebedürftig.

Das großen Schweigen

Die seltsamste Eigenheit der Deutschen aber, so Deane, sei ihre Schüchternheit gegenüber Fremden. Der Deutsche an sich spreche einfach nicht mit Leuten, die er nicht kennt. An der Stelle schaut mich die neben mir sitzende Amerikanerin mit großen Augen an und flüstert: „How do you guys ever get married if you don’t talk to strangers?“. Gute Frage. Man könnte natürlich antworten, dass verbale Kommunikation generell in vielen, übrigens durchaus glücklichen, Ehen nicht über ein rudimentäres „Ich Tarzan. Du Jane.“ hinauskommt. Begegnen sich in Deutschland zwei Fremde aus unterschiedlichen Kulturkreisen, sagen wir ein bajuwarisches Dirndl und „’ne kölsche Jong“, könnte eine Beziehung allein durch „I Theres. Dua Jupp.“ initiiert werden. Mehr Worte braucht es zum Anbandeln nicht.

Aber stimmt es wirklich, dass sich Deutsche durch Schüchternheit und Schweigsamkeit gegenüber jedem auszeichnen, den sie nicht kennen? Sicher, der Deutsche redet nicht erst fünf Minuten übers Wetter, wenn er ein Hotelzimmer bucht, Essen bestellt oder seine Handtücher auf diversen Sonnenliegen verteilt. Einem Engländer mag das schmerzlich wortkarg vorkommen. Wenn jedoch ein Deutscher zu einer Buchpräsentation geht und am Eingang auf eine ihm unbekannte Amerikanerin trifft, ist er, ungeachtet seiner genetischen Disposition und kulturellen Prägung, tatsächlich in der Lage unaufgefordert Small Talk zu machen. (Sich hintereinander zu stellen, um eine Schlange zu bilden, ist für Deutsche hingegen eine weit größere Herausforderung.)

The Big Silence

Wagen wir also die Behauptung, dass die Deutschen es lieben mit anderen zu sprechen und zu schwatzen, egal ob man sich schon einmal begegnet ist. (Sie widersprechen übrigens auch leidenschaftlich gern, wann immer sie Gelegenheit dazu haben.) Wie erklärt sich dann aber die Einschätzung des Engländers? Eine mögliche Antwort gibt der ungarische Schriftsteller und Literaturprofessor Antal Szerb (1901-1945) in seinem Essay Warum der Engländer so schweigsam ist”. Ja, richtig gehört, nicht der Deutsche, der Engländer selbst ist das Problem! (Der Deutsche widerspricht nicht nur gern, er hat auch gern recht.)

Szerb selbst unterscheidet zwei Sorten Engländer: den einfachen, netten Typen von nebenan, der nach zwei Pints seine komplette Lebensgeschichte erzählt – und zwar so lange, bis der Pub schließt – und den wohlerzogenen, schweigenden Gentleman, der ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts überzeugt ist, „dass jeder anständige Mensch schüchtern und zurückhaltend sein sollte“ (S. 235). Schuld an dieser Einstellung – führt Szerb aus – seien die Puritaner, die britischen Privatschulen, der Imperialismus und natürlich … Arthur Conan Doyle, der mit der Figur des Sherlock Holmes einen einsilbigen Exportschlager und ein europäisches Bewusstsein für die englische Schweigsamkeit geschaffen habe.

Aus Szerbs ungarischer Perspektive sind es übersteigerte Bescheidenheit und Höflichkeit, die eine Unterhaltung mit einem wohlerzogenen Engländer schwierig machen: „Wir bezeichnen unsere Hundehütte mit Zwischenwand als Villa, sie [die Engländer] nennen ihr Schloss mit Park schlicht Landhaus.“ (S. 236). Ganz unmöglich werde das Gespräch schließlich, wenn man das englische Schweigegelübde bezüglich persönlicher Belange missachte: „Trifft man in Pest einen Bekannten, fragt der aus purer Freundlichkeit: „Wohin gehst du?“ In England kann ein solcher Zeitgenosse nicht erwarten, für einen Gentleman gehalten zu werden.“ (S. 231).

Fazit: Der Ungar hat Humor, der Deutsche Recht and the rest is silence.

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IchliebteeineschöneFrau

Text:

Antal Szerb, “Warum der Engländer so schweigsam ist,” [Originaltitel: Miért hallgat azangol?] in Ich liebte eine schöne Frau. Miniaturen von Gyula Krúdy, Ernö Szép und Antal Szerb, ed. by Ernõ Zeltner (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011), 225-236

Illustrationen:

Anton Mauve, Shepherd and Sheep, c. 1880

Cover mit freundlicher Genehmigung von dtv.


 

Nadine Gordimers Land der Löwen

Nadine Gordimer, 1923 in der Nähe von Johannesburg geboren, gehörte über Jahrzehnte zu den Autoren, die mit ihren Büchern für ein besseres und gerechteres Südafrika eintraten. Als die Literaturnobelpreisträgerin am 13. Juli 2014 im Alter von 90 Jahren starb, nannte die FAZ sie eine „Chronistin des Umbruchs in Südafrika“ und der Spiegel würdigte sie als „unkorrumpierbare Kritikerin der Rassentrennung“. Im Folgenden werden zwei Kurzgeschichten vorgestellt, in denen Gordimer auf eindrucksvolle Weise ihre Gesellschaftskritik durch das Löwenmotiv zum Ausdruck bringt:

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PENG, POW, KABUMM – Pazifisten im Kinderzimmer

Lesetipp zu Ostern: Zwei kurze Satiren aus Großbritannien und Italien von Hector Hugh Munro (1870-1916), bekannt unter dem Pseudonym Saki, und Umberto Eco (*1932):

Osterhase und Weihnachtsmann haben es nicht immer leicht. Da sollen Geschenke her, die Kindergesichter zum Strahlen bringen, doch die Mienen streitbarer Erziehungsexperten verdüstern sich oft schon bei einem kurzen Blick auf Osternest und Gabentisch. Klingt das nach friedvollen Feiertagen? Vielleicht nicht. Aber nach dem Stoff, aus dem augenzwinkernde satirische Texte entstehen.

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