Typisch deutsch, typisch englisch!? Nationale Unterschiede können ein Minenfeld sein, ein Stereotypen-Dschungel, ein Parcours de force der Fettnäpfchen und Klischees – es sei denn, man widmet sich dem Thema mit einem (selbst)ironischen Augenzwinkern.
Deutsche und Engländer
Als Neil Deane am 16. Juli in Essen sein Buch „Modern Germany. An outsider’s view from the inside“ vorstellte, durfte der Engländer bei seinen Zuhörern auf freundliche Nachsicht und auch ein wenig Mitleid hoffen. Ein waschechter Brite, den es mitten in den „Ruhrpott“ verschlägt, hat es wahrlich nicht leicht, außer vielleicht an Tagen, an denen Dortmund und Schalke Heimspiele bestreiten und ausgeflippte Fußballfans und Hooligans so etwas wie Heimatgefühle aufkommen lassen. Ansonsten aber, dass muss man zugeben, können einem die Deutschen das Leben wirklich schwer machen. Es wundert also nicht, wenn morgens „a grumpy and unkempt Englishman“ auf dem Beifahrersitz hockt, nachdem ihn seine pflichtbewusste deutsche WG-Mitbewohnerin mitten in der Nacht aus dem Bett getrommelt hat, um auf dem Weg zur Arbeit die A So-und-so vor dem üblichen 7 Uhr-Stau hinter sich zu lassen. Wo sonst auf der Welt, fragt sich der verschlafene Exil-Engländer, hätte man je von einem Stau um sieben Uhr morgens gehört?
Ja, die Deutschen sind aus englischer Sicht ein exzentrisches Volk. Sie sind geradezu eigenartig tolerant, zeigen einen erstaunlichen Mangel an Nationalstolz und eine tiefsitzende Skepsis gegenüber allem, was im Entferntesten nach Nationalstolz aussieht. Glaubt man Neil Deane, hält der Engländer vor allem Letzteres für therapiebedürftig.
Das großen Schweigen
Die seltsamste Eigenheit der Deutschen aber, so Deane, sei ihre Schüchternheit gegenüber Fremden. Der Deutsche an sich spreche einfach nicht mit Leuten, die er nicht kennt. An der Stelle schaut mich die neben mir sitzende Amerikanerin mit großen Augen an und flüstert: „How do you guys ever get married if you don’t talk to strangers?“. Gute Frage. Man könnte natürlich antworten, dass verbale Kommunikation generell in vielen, übrigens durchaus glücklichen, Ehen nicht über ein rudimentäres „Ich Tarzan. Du Jane.“ hinauskommt. Begegnen sich in Deutschland zwei Fremde aus unterschiedlichen Kulturkreisen, sagen wir ein bajuwarisches Dirndl und „’ne kölsche Jong“, könnte eine Beziehung allein durch „I Theres. Dua Jupp.“ initiiert werden. Mehr Worte braucht es zum Anbandeln nicht.
Aber stimmt es wirklich, dass sich Deutsche durch Schüchternheit und Schweigsamkeit gegenüber jedem auszeichnen, den sie nicht kennen? Sicher, der Deutsche redet nicht erst fünf Minuten übers Wetter, wenn er ein Hotelzimmer bucht, Essen bestellt oder seine Handtücher auf diversen Sonnenliegen verteilt. Einem Engländer mag das schmerzlich wortkarg vorkommen. Wenn jedoch ein Deutscher zu einer Buchpräsentation geht und am Eingang auf eine ihm unbekannte Amerikanerin trifft, ist er, ungeachtet seiner genetischen Disposition und kulturellen Prägung, tatsächlich in der Lage unaufgefordert Small Talk zu machen. (Sich hintereinander zu stellen, um eine Schlange zu bilden, ist für Deutsche hingegen eine weit größere Herausforderung.)
The Big Silence
Wagen wir also die Behauptung, dass die Deutschen es lieben mit anderen zu sprechen und zu schwatzen, egal ob man sich schon einmal begegnet ist. (Sie widersprechen übrigens auch leidenschaftlich gern, wann immer sie Gelegenheit dazu haben.) Wie erklärt sich dann aber die Einschätzung des Engländers? Eine mögliche Antwort gibt der ungarische Schriftsteller und Literaturprofessor Antal Szerb (1901-1945) in seinem Essay „Warum der Engländer so schweigsam ist”. Ja, richtig gehört, nicht der Deutsche, der Engländer selbst ist das Problem! (Der Deutsche widerspricht nicht nur gern, er hat auch gern recht.)
Szerb selbst unterscheidet zwei Sorten Engländer: den einfachen, netten Typen von nebenan, der nach zwei Pints seine komplette Lebensgeschichte erzählt – und zwar so lange, bis der Pub schließt – und den wohlerzogenen, schweigenden Gentleman, der ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts überzeugt ist, „dass jeder anständige Mensch schüchtern und zurückhaltend sein sollte“ (S. 235). Schuld an dieser Einstellung – führt Szerb aus – seien die Puritaner, die britischen Privatschulen, der Imperialismus und natürlich … Arthur Conan Doyle, der mit der Figur des Sherlock Holmes einen einsilbigen Exportschlager und ein europäisches Bewusstsein für die englische Schweigsamkeit geschaffen habe.
Aus Szerbs ungarischer Perspektive sind es übersteigerte Bescheidenheit und Höflichkeit, die eine Unterhaltung mit einem wohlerzogenen Engländer schwierig machen: „Wir bezeichnen unsere Hundehütte mit Zwischenwand als Villa, sie [die Engländer] nennen ihr Schloss mit Park schlicht Landhaus.“ (S. 236). Ganz unmöglich werde das Gespräch schließlich, wenn man das englische Schweigegelübde bezüglich persönlicher Belange missachte: „Trifft man in Pest einen Bekannten, fragt der aus purer Freundlichkeit: „Wohin gehst du?“ In England kann ein solcher Zeitgenosse nicht erwarten, für einen Gentleman gehalten zu werden.“ (S. 231).
Fazit: Der Ungar hat Humor, der Deutsche Recht and the rest is silence.
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Text:
Antal Szerb, “Warum der Engländer so schweigsam ist,” [Originaltitel: Miért hallgat azangol?] in Ich liebte eine schöne Frau. Miniaturen von Gyula Krúdy, Ernö Szép und Antal Szerb, ed. by Ernõ Zeltner (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011), 225-236
Illustrationen:
Anton Mauve, Shepherd and Sheep, c. 1880
Cover mit freundlicher Genehmigung von dtv.