Frau Müller muss weg

Am 15. Januar 2015 startete Sönke Wortmanns Verfilmung „Frau Müller muss weg“ in den deutschen Kinos. Die 2010 in Dresden uraufgeführte Komödie von Lutz Hübner wurde am 7. Januar 2015 auch im Essener Rathaustheater gespielt, mit Claudia Rieschel als engagierte Grundschullehrerin und Gerit Kling, Wolfgang Seidenberg, Iris Boss, Katrin Filzen und Thomas Martin in der Rolle überbesorgter Eltern.

Ironischerweise gibt es zu Beginn des Elternabends an der Grundschule Blumen für die langjährige Klassenlehrerin, bevor die Eltern Frau Müller auffordern die Leitung der vierten Klasse abzugeben. Der elterliche Vorwurf, der Lehrerin fehle ein pädagogisches Konzept, wird im Folgenden schnell als fadenscheiniger Vorwand entlarvt. Als Frau Müller die Sitzung zeitweise verstört verlässt, kauern die Eltern weiter auf den viel zu kleinen Stühlchen hinter den Pulten ihrer Kinder und erweisen sich als Aufrührer ohne Augenmaß, Schleimer, Mitläufer, Hysteriker oder kühl kalkulierende Strategen, die das Lebensglück des eigenen Kindes mit der Gymnasialempfehlung gleichsetzen:

"Wer den falschen Schultypus erwischt, kann einpacken, ist aussortiert und kommt nicht mehr hoch. Das ist der Albtraum aller Eltern und dagegen wird gekämpft, mit allen Mitteln, über und auch gern unter der Gürtellinie. Sachlichkeit und Objektivität spielen keine Rolle, es geht schließlich um alles: um das eigene Kind. Das Wohl des Kindes ist die natürliche Grenze von Toleranz, Multikulturalismus, sozialer Verantwortung und eines Wertesystems, das auf dem kategorischen Imperativ fußt."
Lutz Hübner: Warum Frau Müller weg muss, Programmheft, S. 4

Entsprechend vorhersehbar ist der grundlegende Meinungsumschwung unter den Eltern, als sie glauben, Frau Müller könnte aufgrund allzu nachsichtiger Notengebung ihren Kindern doch noch den Weg ins gelobte Land, also ins Gymnasium, ebnen. Auch die Stereotypen, mit denen das Stück spielt, überraschen nicht: Da gibt es Eltern, die die Modenamen ihrer Kinder nicht aussprechen können, so dass Janine als „Schahnien“ durchs Leben gehen muss, Eltern, die Aggressivität und schlechte Leistungen mit Hochbegabung verwechseln und Eltern, die akribisch die Hausaufgaben ihrer Kinder erledigen, ohne dass diese selbst dabei auch nur in Sichtweite wären. Zuschauer werden in diesem leichten Boulevardstück also viel Bekanntes entdecken, dass sie mit einem zustimmenden Kopfnicken quittieren können. Zwar hätte der Komödie insgesamt etwas mehr Wortwitz nicht geschadet, aber das Ensemble des Tourneetheaters unter der Regie von Kay Neumann hat das Stück professionell im Wechsel von lauten und leisen Tönen umgesetzt. 

K. Heup

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Illustration:

Magnus Enckell, Kansakoulu (Grundschule), 1899


 

Stille Nacht in den Schützengräben 1914

Der amerikanische Historiker Stanley Weintraub spürt in seinem Buch „Silent Night. The Remarkable Christmas Truce of 1994“ den Ereignissen an Weihnachten 1914 nach, als aus umkämpften Kriegsschauplätzen für kurze Zeit Orte des Friedens wurden.

You no shoot, we no shoot!

Weihnachten ohne Waffen, nur wenige Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Es klingt wie ein moderner Mythos, dass verfeindete Soldaten am Heiligabend 1914 eine gemeinsame „Stille Nacht“ in europäischen Schützengräben erlebt haben sollen. Die Chancen für eine Feuerpause standen denkbar schlecht, nachdem nicht nur in Flandern und Frankreich die Kämpfe erbittert geführt und zwischen August und Dezember 1914 bereits hunderttausende junger Männer getötet, verwundet oder vermisst gemeldet worden waren. Einigkeit schien zwischen den politischen und militärischen Führern nur darin zu bestehen, dass die von Papst Benedikt XV vorgeschlagene Waffenruhe unmöglich sei.

Und doch geschah, was Weintraub im ersten Kapitel „An Outbreak of Peace“ nennt. Desillusioniert, ausgelaugt und zermürbt von der grausamen Realität des tagtäglichen Tötens und dem winterlichen Dauerregen, der die Schlachtfelder in nasskalte Schlammwüsten verwandelt hatte, sehnten sich viele Soldaten an der Westfront nach ein wenig Menschlichkeit inmitten eines unmenschlichen Krieges. Weintraub zitiert in diesem Zusammenhang den deutschen Maler Otto Dix, der seine Kriegserfahrungen so zusammenfasste: „lice, rats, barbed wire, fleas, shells, bombs, underground caves, corpses, blood, liquor, mice, cats, artillery, filth, bullets, mortars, fire, steel: that’s what war is. It is the work of the devil.’“1

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Zum 80. Todestag von Joachim Ringelnatz

Am 17. November 2014 erinnern wir an Joachim Ringelnatz (1883 – 1934), den deutschen Kabarettisten, Sprachjongleur und Nonsense-Dichter. Die Liste der (Berufs)Bezeichnungen des Hans Bötticher, der unter verschiedenen Pseudonymen etwa 2.500 Gedichte verfasste, könnte man fast beliebig verlängern. Lehrerschreck, Leichtmatrose und Lebenskünstler gehören zweifellos dazu.

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“Was liest du?” mit Jochen Malmsheimer

Es ist Halloween. Fröhliche Monster und feierfreudige Untote bevölkern die Straßen, beäugt mit steinernem Fledermausblick. Daneben schaut von der Fassade des Kölner Metropoltheaters ein Narr und Possenspieler auf die Besucher vor dem Theatereingang herab, die an diesem Abend auf knochenbleiche Schminke und Kunstblut verzichtet haben. Statt Gruselshow & Gänsehaut wartet auf sie nämlich eine Neuauflage der Lach- & Lesesendung “Was liest du?” von und mit Jürgen von der Lippe. Die Wiederaufnahme des bekannten Konzepts in zwei Sondersendungen kommentiert von der Lippe gewohnt ironisch: „Ich bin begeistert, dass der WDR dieses erzieherisch wertvolle und unterhaltsame kleine Format noch einmal aufleben lässt, zumal Schönheit und Jugend des Moderators gegenüber Witz und Buchwissen nachrangig sind”.

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Mit Hermann Hesse durch den Herbst

Der deutsche Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse (1877-1962) hat nicht wenige Gedichte, Briefe und Romanauszüge über die Jahreszeit hinterlassen, die für Wandel, Abschied, Vergänglichkeit und Verfall steht. Ulrike Anders hat Hesses im Suhrkamp Verlag erschienene „Sämtliche Werke“ durchforstet und mit „Herbst“ ein Kaleidoskop dessen erstellt, was den Schriftsteller am Nachsommer faszinierte. Da ist die Rede von langen Spaziergängen durch die Natur, von der Magie der Farben im Herbstwald, dem Duft des Weins, Kindheitserinnerungen an “Knabenstunden mit Schmetterlingsnetz und Botanisierbüchse”1. Der beginnende Frost bringt eine Sehnsucht nach dem sonnigen Italien, aber auch ein Gefühl der „Ofenbehaglichkeit“2 im Zimmer, dessen liebevolle Einrichtung den Sommer über unbeachtet geblieben war.

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